Steffen Wesemann - Der Pflastermann
Steffen Wesemann wurde im Frühjahr 1971 geboren. Vielleicht lässt das ja Rückschlüsse auf seine Hassliebe für die oft knüppelharten Frühjahrsklassiker zu.
Doch im Ernst: Dass "Wese" im Laufe der Karriere zu dem deutschen Frühlingsfahrer zur Zeit der Jahrtausendwende neben Erik Zabel geworden ist, liegt wohl eher an seinen Talenten. Er ist auf der einen Seite ein tempofester Rouleur, deswegen auch ein guter Zeitfahrer. Auf der anderen Seite ist Wesemann spurtstark, weshalb er häufig als Not-Lokomotive bei Sprint-Ankünften für Telekom-Teamkollegen Zabel arbeiten musste, wenn der gerade nicht seine italienischen Edelhelfer oder Allzweckwaffe Rolf Aldag dabei hatte.
Bei ansteigenden Streckenabschnitten jedoch reichen Steffen Wesemanns Fähigkeiten "nur" für die hochprozentigen, dafür aber kurzen Anstiege bei Klassikern wie der Flandern-Rundfahrt, um vorne mitzumischen. Regen und Kälte machen Wesemann wiederum nichts aus.
Dieses Gesamtpaket schreit doch geradezu nach dem ersten deutschen Sieg bei Paris-Roubaix seit hundert Jahren! Wesemanns Karriere-Traum wäre dann Wirklichkeit. Joseph Fischer hatte 1896 die erste Auflage des Kopfsteinpflaster-Klassikers gewonnen.
Talent verschleudert!?
Nun gehört Steffen Wesemann zu der Sorte Fahrer, denen lange Zeit vorgeworfen wurde, ihr Talent verschleudert zu haben. Schauen wir uns mal an, wie es aussieht, wenn ein junger Straßenradfahrer sein Talent "verschleudert", nachdem er als Amateur 1992 mit Gesamtsiegen bei Niedersachsen-Rundfahrt und Friedensfahrt die Eintrittskarte ins Profi-Geschäft (seit 1993 Team Telekom) gelöst hatte.
Da wären zwischen 1993 und 1998 mehrere vordere Platzierungen bei einzelnen Etappen diverser mehrtägiger Rundfahrten, darunter zum Beispiel der erste Profi-Sieg bei der Setmana Catalana 1993 auf der Halbetappe 5.1, oder - bereits 1998 - wieder ein Halbetappensieg bei der Vuelta Castilla y Leon im Massensprint in Valladolid. Auch ein Etappensieg bei der Rheinland-Pfalz-Rundfahrt (1996) fehlt nicht in Wesemanns Palmarès. Ein ungewöhnlicher Erfolg für einen Nicht-Iberer war der Gesamtsieg in der Meta-Volante-Wertung der Spanien-Rundfahrt 1997.
Schon naheliegender ist da Steffen Wesemanns Vorliebe für ein Rennen, das er als Kind verfolgte und das schon sein Vater gefahren war: die Friedensfahrt, genannt "Tour de France des Ostens" aufgrund des damals hohen Stellenwertes im Ostblock, wo alle Fahrer nur Amateur-Status hatten. Ebenfalls noch als Amateur hatte der damals 21-jährige Wesemann 1992 den "Course de la Paix" für sich entscheiden können. Zwei weitere Gesamtsiege (1996, 1997) und mehrere Etappensiege folgten bei der Rundfahrt durch Tschechien, Polen und Deutschland.
Unterm Strich sammelte der Wolmirstedter fleißig Siege - wenn auch nicht bei den wichtigen Rennen. Nur im Training war der Fleiß nicht immer ganz Wesemanns Ding. "Wese" wurde mitunter häufiger auf Partys als auf dem Rennsattel gesichtet. Da liegt es dann natürlich nahe, alle Erfolge zum Trotz, von einem "verschleuderten Talent" zu reden.
Gute Vorsätze
Wir schreiben das Jahr 1999, und so langsam aber sicher sollte sich einiges ändern in der Karriere des Steffen Wesemann. Wesemann lebt mittlerweile in der Schweiz, heiratet eine Eidgenossin, trainiert zielgerichtet für den Erfolg im Radsport. Noch einmal gewinnt er die Friedensfahrt - zum vierten Mal! Im Vorjahr hatte sein Rivale Uwe Ampler die Nase vorn gehabt.
Der Wunsch Wesemanns, auch mal an der Tour de France teilzunehmen, wird von den Sportlichen Leitern bei Telekom berücksichtigt. Wahrscheinlich spielte auch die lange Liste der Ausfälle (u.a. Ullrich) für die "Große Schleife" bei den Bonnern 1999 eine Rolle bei Wesemanns Nominierung. Der Wahl-Schweizer hielt bis Paris durch, wurde am Ende 73. Helferdienste für Erik Zabel waren von Wesemann gefragt. Ein Ausflug in eine Spitzengruppe auf der Überführungs-Etappe nach Saint-Gaudens führte zu einem vierten Rang. Es gewann der Russe Konyschew.
Der endgültige Durchbruch im Jahr 2000
Im Jahr 2000 war die Image-Wende vollzogen: Wesemann spurtete in einer Verfolgergruppe des Eröffnungsrennens der belgischen Frühjahrssaison, Omloop Het Volk, hinter Sieger Museeuw auf Platz 2.
Zirka einen Monat später glänzte er mit einem fulminanten Auftritt bei der Flandern-Rundfahrt. An der Mauer von Geerardsbergen schloss er das Loch zum "Löwen von Flandern", Johan Museeuw, und hegte in einer Spitzengruppe vielleicht sogar Hoffnungen auf einen Treppchen-Platz, ehe er sich kurz vor Rennende in den Dienst des von hinten aufschließenden Weltcup-Führenden Erik Zabel stellte und dem Teamkollegen den Weg zum vierten Platz im Verfolgersprint hinter dem entwischten und fast noch eingeholten Tchmil ebnete.
Eine Woche später stand Paris-Roubaix auf dem Programm, wo Wesemann schon 1997 mit vorne dabei war. Und wieder präsentierte sich der nun 29-jährige in einer ausgezeichneten Form. Nur galt es beim Team Telekom weiterhin, die Pole Position im Weltcup für Erik Zabel zu sichern. Diesem Vorhaben musste Steffen Wesemann seine Siegesambitionen unterordnen, und er landete schließlich auf dem neunten Rang.
Seine vielleicht bis dahin wichtigsten Siege feierte Wesemann noch im selben Jahr beim ältesten deutschen Klassiker Rund um Köln und seinem "Heimrennen", dem Großen Preis von Gippingen in der Schweiz. Als es beim Team Telekom um die Startplätze für die Tour de France ging, kam die Mannschaftsleitung an dem im Endeffekt stets loyalen Wesemann einfach nicht mehr vorbei. Leider bedeutete ein Schlüsselbeinbruch auf der 14. Etappe das jähe Tour- und Saisonende in Wesemanns "Meisterjahr".
Apropos Meister: Haushoher Favorit auf den Deutschen Meistertitel war 2000 eigentlich Steffen Wesemann. Nur wollte man bei Telekom Rolf Aldag irgendwie entschädigen für die Nicht-Berücksichtigung bei der Tour de France. Aldag triumphierte bei den Deutschen Meisterschaften vor Steffen Wesemann, der wie die ganze Mannschaft dem Ahlener das Feld bereitete.
Superform - doch irgendwie ist der Wurm drin!
Wesemann selbst musste 2001 auf Helfer bei den Frühjahrsklassikern weitestgehend verzichten, obwohl sein Name plötzlich überall auftauchte, wenn es um die Favoriten für die Kopfsteinpflaster-Rennen ging. Bei Telekom hatte anscheinend immer noch Zabel die stärkere Lobby, nachdem er einmal mehr mit einem Sieg bei Mailand-San Remo in den Weltcup gestartet war und im Jahr zuvor den Gesamtweltcup für sich hatte entscheiden können.
In Belgien und Nordfrankreich lief es für Zabel 2001 aber nicht mehr wie gewünscht. Nun war Wesemann der Top-Mann bei Telekom, wenn es auf die Pflastersteine ging. Die Kehrseite der Medaille: Der Wahl-Schweizer war anders als Zabel isoliert von sämtlichen Team-Gefährten.
Bei der Flandern-Rundfahrt 2001 reichte es nur für Platz 12, weil die Wesemann-Gruppe mit allen Favoriten sich über die Verfolgung der Kopfgruppe mit dem späteren Überraschungssieger Bortolami nicht einig wurde. Erheblich besser klappte es vier Tage später beim Halbklassiker Gent-Wevelgem, bei dem nur der US-Amerikaner George Hincapie stärker war als der Deutsche.
Am nächsten Wochenende folgte das doppelte Trauerspiel bei Paris-Roubaix 2001. Zum einen sah sich Steffen Wesemann einer domo-Übermacht gegenüber, zum anderen machte eine vom Schlamm der Pavés abgeschliffene Schuhplatte alle Ambitionen zunichte, da der 30-jährige praktisch nur noch in der Lage war, mit einem Bein zu kurbeln. So konnte er sich trotz blendender körperlicher Verfassung lediglich an die Spitzengruppe mit Mühe anheften und belegte den 7. Rang.
Im Sommer dann bestritt Wesemann seine bereits dritte Tour de France. Geschätzt wurden an ihm einmal mehr seine Qualitäten im Flachland, die er allerdings fürs Team Telekom nur bis zur 13. Etappe einbringen konnte. In den Pyrenäen stieg er entkräftet aus dem Rennen aus. Zuvor half er Erik Zabel bei zwei unerwartetem Etappensiegen als letzter Anfahrer im Massensprint. Zabel hatte zugunsten eines zusätzlichen Domestiken für Jan Ullrich auf seinen Adjutanten Fagnini verzichten müssen. Wesemann sprang erfolgreich in die Bresche.
2002 Platz 2 in Roubaix
Im Frühling 2002 folgte ein neuer Anlauf des Steffen Wesemann, um in der "Hölle des Nordens" für Telekom und Deutschland die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Tatsächlich war "Wese" bei der diesjährigen Ausgabe von Paris-Roubaix so dicht dran am ersten deutschen Triumph seit 1896 wie noch nie. Wieder hatte er Ärger mit der Schuhplatte. Vorsorglich hatte Wesemann diesmal Ersatzmaterial im Mannschaftswagen verstauen lassen, ließ die Platte auswechseln. Das Malheur passierte jedoch ausgerechnet, als der spätere Sieger Johan Museeuw 41 Kilometer vor dem Ziel seinen entscheidenden Angriff setzte. Wesemann hatte wohl nicht mit einer derart frühen Attacke des erfahrenen Flamen gerechnet, startete die Aufholjagd zu spät. Der Deutsche schloss zum ersten Museeuw-Verfolger, dem jungen Belgier Tom Boonen (US Postal), auf und erreichte mit drei Minuten Rückstand auf den "Löwen von Flandern" das Velodrom in Roubaix, wo er als Zweiter vor Boonen die Ziellinie überfuhr.
Bei der Tour de France 2002 war Steffen Wesemann endlich wieder bis zur Champs-Elysées in Paris mit von der Partie, ohne jedoch entscheidende Akzente setzen zu können. 2003 erreichte "Wese" eigentlich wieder rechtzeitig zu den Frühjahrsklassikern seine Top-Form. Mit einem zweiten Platz beim E3-Preis von Harelbeke hinterließ er seine erste Duftnote. Eine Woche später war es jedoch um die April-Klassiker 2003 für den Telekom-Profi geschehen: Wesemann stürzte bei der Flandern-Rundfahrt am Koppenberg und zog sich einen Knorpelausriss im Rippenbereich zu. Das bedeutete zugleich den Verzicht auf Paris-Roubaix.
Ein neues Ziel waren die Mai-Rennen in Deutschland. Bei seinem Comeback setzte es gleich einen Sieg beim Flughafen-Rennen Köln/Bonn (UCI-Kategorie 1.3), das als Wesemanns Generalprobe für die Friedensfahrt galt, wo er seinen fünften Gesamtsieg anpeilte. Das Team Telekom fuhr von Anfang am stärksten, weshalb der Triumph auf Wesemann programmiert zu sein schien. Dieser ließ sich dann nicht lumpen und machte sich mit dem Vorjahressieger Sosenka auf der 4. Etappe auf und davon. Am Ende gewann Wesemann mit 49 Sekunden Vorsprung vor dem Tschechen und trug sich damit als erster Fahrer zum fünften Mal in die Siegerliste der Friedensfahrt ein. 2004 dann wurde endlich der Traum vom Sieg bei einem großen Frühjahrsklassiker wahr. Steffen Wesemann gewann am 4. April die Flandern-Rundfahrt.
Die wichtigsten Profi-Siege und Wesemanns Teams:
1993 - Team Telekom
5.1 Etappe Katalanische Woche
eine Etappe Tour de l'Avenir
1994 - Team Telekom
1995 - Team Telekom
1996 - Team Telekom
7 Etappen Friedensfahrt
Friedensfahrt, Gesamtsieg
4. Etappe Rheinland-Pfalz-Rundfahrt
1997 - Team Telekom
Prolog & 3 Etappen Friedensfahrt
Friedensfahrt, Gesamtsieg
1998 - Team Telekom
Rund um den Flughafen Köln/Bonn
4.1 Etappe Vuelta Castilla y Leon
eine Etappe Sachsen-Rundfahrt
1999 - Team Telekom
3 Etappen Friedensfahrt
Friedensfahrt, Gesamtsieg
2000 - Team Telekom
4. Etappe Tour Down Under
Rund um Köln
GP Gippingen
2001 - Team Telekom
2002 - Team Telekom
2003 - Team Telekom
Rund um den Flughafen Köln/Bonn
3. Etappe Friedensfahrt
Friedensfahrt, Gesamtsieg
eine Etappe Sachsen-Rundfahrt
2004 - T-Mobile Team
Flandern-Rundfahrt
Wesemann bei der Tour de France: 1999 73. für Team Deutsche Telekom 2000 --. für Team Deutsche Telekom 2001 --. für Team Deutsche Telekom 2002 99. für Team Deutsche Telekom